Kultur

“Moskitos“ (Lucy Kirkwood) am Staatstheater Kassel

Kollisionen und kosmische Tänze


(Quelle: N. Klinger)
(Quelle: N.Klinger)
GDN - Mit der deutschsprachigen Erstaufführung von “Moskitos“ (Lucy Kirkwood) eröffnete die Schauspielsparte am Staatstheater Kassel am vergangenen Donnerstag die neue Spielzeit. Intendant Thomas Bockelmann inszeniert die Geschichte rund um die Familie einer Physikerin am Kernforschungszentrum CERN.
Als ich kürzlich mit der einjährigen Tochter einer Freundin eine Kirmes besuchte, stellte ich alsbald fest, dass das erst seit Kurzem des Laufens mächtige Mädchen weitaus weniger Interesse an den bunten Kinderkarussells, die ursprünglich der Anlass unseres nachmittäglichen Ausflugs waren, zeigte, als ich im Vorfeld angenommen hatte. Stattdessen erfreute sich Mara sichtlich an der Tatsache, durch die neu erlernte Kompetenz ihren Bewegungsradius und somit ihre Autonomie erweitern zu können und statt ihre Aufmerksamkeit den Fahrgeschäften zu widmen, galt diese vornehmlich den auf dem Boden liegenden Blättern, die bereits begonnen hatten sich herbstlich zu verfärben und deren wellige, poröse Ränder den baldigen Zerfall ankündigten.
Das Kind schien an jenem Tag einzig das Ziel zu verfolgen, jedes einzelne Blatt aufzuheben und wie ein wunderschönes, faszinierendes Kunstwerk zu betrachten. Schlagartig erkannte ich, dass Interessen, Motivationen und Wahrnehmungen - abhängig von Alter, Persönlichkeit, individueller Biografie und Kompetenz - äußerst subjektiv sind, denn in Maras Wahrnehmung stellten auch kleinste Blätter, die mannigfach achtlos unter den schwarzen Schuhsohlen hunderter Kirmesbesucher zertreten wurden, monumentale Meisterwerke und deren Auffinden ein faszinierendes Abenteuer dar.
Auf der Bühne im Staatstheater Kassel erleben die Zuschauer Alice, für die der vielleicht bedeutendste Tag ihres Lebens herannaht, steht doch ein Ereignis bevor, auf das sie 11 Jahre akribisch hingearbeitet hat, mit dem sie enorme Hoffnungen verbindet und dessen Eintreten mit einem “Halleluja“, dem Freudengesang anlässlich der Überwindung von Teufel, Tod und Sünde durch die Auferstehung Jesu, gefeiert wird. Was jedoch für Alice das Zentrum ihrer Welt zu sein scheint, hält ihre Schwester Jenny für gänzlich unbedeutend und andere gar für eine existenzbedrohende Gefahr apokalyptischen Ausmaßes.
Während ihre Namensvetterin in einem Kaninchenbau das Wunderland entdeckte, in dem Dimensionen sich verschieben und sich der gesunde Menschenverstand mit Paradoxien und Absurditäten konfrontiert sieht, hat es die Protagonistin in dem Stück “Moskitos“ der englischen Autorin Lucy Kirkwood in die Labore des CERN verschlagen. Als experimentelle Physikerin arbeitet sie tief unterhalb der Stadt Genf am Teilchenbeschleuniger, jener größten Maschine, die die Menschheit je entwickelt hat.
In dem unterirdischen Ringtunnel, der einen Umfang von 27 Kilometern aufweist und an dessen Konstruktion mehr als 10.000 Wissenschaftler und Techniker aus aller Welt beteiligt waren, lässt sie mit ihren Kollegen elektrisch geladene Teilchen aufeinanderprallen, in der Hoffnung das Higgs-Boson, jenes Elementarteilchen, das niemand jemals gesehen hat und dessen Existenz bislang eine rein theoretisch begründete Hypothese war, das aber dennoch die Welt im Innersten zusammenhält, nachzuweisen.
So wie die Forscher in der Genfer Erde winzige Partikel in annähernder Lichtgeschwindigkeit aufeinander zurasen lassen, um die Auswirkungen der unausweichlichen Kollisionen zu beobachten und zu analysieren, lässt Lucy Kirkwood ihre Figuren, die allesamt ihre Erfahrungen, Ängste und Abgründe in sich tragen, in wechselnden Konstellationen aufeinanderprallen.
Jenny, Alice, Karen (K.Nennemann)
Quelle: N.Klinger
Die gebildete, rationale Alice trifft auf ihre hoch emotionale Schwester Jenny, die in ihrem Heimatort Luton Versicherungen am Telefon verkauft und sich um die alternde Mutter der beiden, eine einst geniale Wissenschaftlerin, deren Geist sich jedoch mit aufkommender Demenz zunehmend verflüchtigt, kümmert. Jenny hat ihr Kind verloren, da sie es aufgrund ihrer Skepsis gegenüber der Wissenschaft versäumt hat, dieses impfen zu lassen.
Im Gegensatz zu ihrer Schwester hat Alice das Elternhaus frühzeitig verlassen und promoviert. Sie lebt nun in Genf gemeinsam mit ihrem Sohn Luke, einem überaus gescheiten jungen Mann, über dessen Haupt das Schicksal seines verschwundenen und psychisch kranken Vaters schwebt und der die Arbeit seiner Mutter überaus kritisch betrachtet. Die Schwestern verbindet, dass sie von dem jeweiligen Vater ihrer Kinder getrennt leben, wenngleich Alice mittlerweile eine neue Beziehung eingegangen ist. Doch darüber hinaus scheinen Alice und Jenny in nahezu jeglicher Hinsicht in unterschiedlichen Welten beheimatet.
Shiva (Lauren Rae Mace)
Quelle: N.Klinger
Eine weitere rätselhafte Figur taucht wiederholt in verschiedenen Erscheinungsformen in dem Stück auf: Die Göttin Shiva (Lauren Rae Mace). Diese symbolisiert mit ihrem kosmischen Tanz die Grundlagen aller Existenz - Schöpfung und Zerstörung. Shiva ist die hinduistische Gottheit der Gegensätze, die in vielerlei Verkleidungen und Masken in Erscheinung tritt.
Steigt eine Gottheit in irdische Sphären herab, spricht das Sanskrit von “Avatara“, wovon sich der auch in unserem Sprachraum mittlerweile geläufige Begriff des “Avatars“ ableitet - jener virtuellen Kunstfigur, die ihre Lippen synchron zu bewegen vermag und sich durch James Camerons Film als blaues Wesen in unser virtuelles Gedächtnis geschlichen hat - Inspirationen, die von der Inszenierung am Staatstheater Kassel aufgenommen werden.
Aldous Huxley, der Autor von “Schöne neue Welt“, beschrieb Shiva wie folgt: “Die Figur steht inmitten eines großen Kreises, einer Art Glorien-Heiligenschein, aus dem Flammen herausgehen; und das ist der Kreis von Masse-Energie-Raum-Zeit, die materielle Welt. [“¦] Mit seinem oberen rechten Arm hält er eine kleine Trommel, es ist die Trommel, die die Dinge ins Sein beruft. Trommelt er auf ihr, entstehen Dinge. Mit seinem linken Arm hält er ein Feuer, das Feuer, das alles zerstört. Er tut beides: Erschaffen und zerstören.“
Shiva (Lauren Rae Mace)
Quelle: N.Klinger
Auch in Kassel bewegt sich Shiva in einem leuchtenden Kreis - der runden Bühne, die sie mit ihren Tanzschritten auseinanderzuzerren und zusammenzufügen vermag. Es handelt sich hierbei um keine verschrobene Regieidee, denn im europäischen Kernforschungszentrum CERN steht tatsächlich eine etwa 2 Meter hohe Shivastatue, die den hinduistischen Gott beim kosmischen Tanz zeigt. Auf einer beigefügten Tafel ist ein erklärendes Zitat des Physikers Fritjof Capra zu lesen: “Die Metapher des kosmischen Tanzes vereint Mythologie, religiöse Kunst und moderne Physik.“ Neben den Beziehungen zwischen Religion, Mystik und Wissenschaft greift das Stück eine Flut von Ideen und Themen auf und wirft diverse ethische Fragen auf.
The Boson (B.Hölscher)
Quelle: N.Klinger
Es geht um die Verantwortung der Wissenschaft und die Vermittlung gewonnener Erkenntnisse, Darwinismus, Visionen des Weltuntergangs, die mittels zweier hinreißender Monologe der Figur “The Boson“ (eine charmante Idee, die Rolle dieses kleinsten denkbaren Elementarteilchens mit Bernd Hölscher zu besetzen) dargelegt werden, die Kraft der Liebe, soziale Medien, Globalisierung, Rache, den Gegensatz von Emotion und Ratio, die Herausforderungen und Ängste, die unterschiedliche Lebensphasen heraufbeschwören sowie die Abgründe des Menschen, die sich in kaum einer Konstellation derart trefflich aufdecken und beleuchten lassen wie innerhalb der Familie.
Der Produktion in Kassel gelingt es, die unterschiedlichen Fäden zusammenzuhalten. Das Licht (Brigitta Hüttmann), Videosequenzen (Jan Peters) und ein ausgetüfteltes Sounddesign (Heiko Schnurpel) vermitteln die Tragweite der Themen, wobei es der Inszenierung von Thomas Bockelmann dennoch gelingt, trotz der aufwendigen Produktion die handelnden Personen in das Zentrum der fast leeren Bühne (Mayke Hegger) und der nur wenigen Requisiten zu stellen und somit die Zuschauer emotional zu erreichen. Bereits in den zurückliegenden Spielzeiten - man denke an die gelungenen Noah Haidle-Inszenierungen - zeigte sich, dass Thomas Bockelmann es versteht, komplizierte Erzählstrukturen und abgründige Familiengeschichten stimmig auf die Bühne zu bringen.
Luke (T. Czerwonatis) und Jenny (R.Weiss)
Quelle: N.Klinger
Rahel Weiss (Jenny) und Christina Weiser (Alice) bieten packende Darstellungen der beiden ungleichen Schwestern. Während Alice, in ihrer exklusiven Welt der Wissenschaft lebend, sich zunächst überlegen und häufig herablassend gegenüber Jenny verhält, zeigt sich im Verlaufe des Stückes, dass sie keineswegs die völlige Kontrolle über ihr Leben besitzt. Auf der anderen Seite wird deutlich, dass Jenny, trotz ihrer verheerenden Mischung aus Halbwissen und Aberglauben, über Sinn für das Praktische verfügt und Verantwortung übernimmt. Es ist Jenny, die mit den täglichen Herausforderungen im Zusammenleben mit der Mutter konfrontiert ist und diese bewältigt und sie ist es, die Lukes Probleme weitaus besser versteht, als dessen Mutter.
Alice & Jenny
Quelle: N.Klinger
Jenny ist in vielerlei Hinsicht das Gegenteil ihrer Schwester. Während Alice intelligent, kontrolliert und selbstsicher wirkt und ihr Leben zunächst in geordneten Bahnen zu verlaufen scheint, bevor ihre Hilflosigkeit zutage tritt - was Christina Weiser durch ihr detailliertes, fein abgestimmtes Spiel ideal verkörpert - erscheint Jenny chaotisch - in ihrem Verhalten, ihren Gedanken und ihrer äußeren Erscheinung (Kostüme: Claudia González Espíndola). Sie ist wütend und - auch wenn rhetorisch untalentiert - voll scharfen Witzes. Rahel Weiss ist dank ihrer Präsenz und ihres komischen Talents eine Idealbesetzung für diese Figur.
Generell ist die Besetzung des Ensembles gut gelungen. Herauszuheben ist dabei Tim Czerwonatis (Luke), der in seiner ersten Rolle am Staatstheater Kassel zu überzeugen weiß. Seine Figur ist, wie im Stück mehrfach angesprochen wird, “düster wie die seines Vaters“, mit dem er depressive Züge zu teilen scheint und der durch sein Verschwinden ein schwarzes Loch in der Familie hinterlassen hat.
Aus Lukes Zimmer ertönt der Song “Five Years“ von David Bowie - ein Lied, das von einer Welt erzählt, die in 5 Jahren ihrem Untergang geweiht ist. Innerhalb des an dystopischen und apokalyptischen Stücken nicht armen Songkatalogs des 2016 verstorbenen Musikers kann “5 Years“ als der vielleicht beunruhigendste Song bezeichnet werden. Im Zusammenhang mit der Verwendung in der Kasseler Inszenierung ist es eine bemerkenswerte Anekdote, dass Bowie zu dem Songtitel inspiriert worden sein soll, als ihm sein verstorbener Vater im Traum erschien und den Tod seines Sohnes in 5 Jahren prophezeit habe.
Warum suchen die Wissenschaftler am CERN überhaupt nach Teilchen? Weil ohne sie das bisher erlangte Verständnis über unser Universum und dessen Entstehung in sich zusammenbrechen würde. Physiker waren überzeugt: Es muss Teilchen geben, die erklären können, woher Dinge ihre Masse haben. Dieses fehlende Teilchen wurde mittlerweile nachgewiesen. Im Genfer Teilchenbeschleuniger erschien es für 0,0000000000005 Sekunden.
Auf die Frage, welche Bedeutung diese Entdeckung habe, antwortete Wilfried Buchmüller, Professor für theoretische Elementarteilchenphysik an der Universität Hamburg: “In unserem täglichen Leben spielt das keine Rolle." Anders formuliert: Für den Großteil der Menschheit hat das Ergebnis jahrelanger Forschung, die mehr als 6 Billionen Euro verschlungen hat, keinerlei Bedeutung.
Kirkwood veranschaulicht mit ihrem Stück, dass Informationen, die wir erhalten, stets an unsere jeweilige Lebenswelt und unsere Emotionen gekoppelt sind und wir somit gewissermaßen beständig in unserer Welt verhaftet bleiben.
Alles ist relativ, könnte man sagen. Kleinste Dinge erscheinen in bestimmten Zusammenhängen gewaltig - große Themen bleiben unerkannt. Die titelgebenden Moskitos - winzige blutsaugende Insekten - kosten jährlich 750.000 bis 1 Millionen Menschen das Leben. Im Vergleich sind die Opferzahlen anderer gemeinhin als gefährlich geltender Tiere - oder jene von terroristischen Anschlägen - verschwindend gering.
Das Warten auf einen Telefonanruf oder eine SMS kann auf das eigene Sein ebenso bedrohlich wirken wie der Tod eines Kindes oder ein kompromittierendes Foto, das online geht. Es hängt von der jeweiligen Perspektive ab.
Man mag “Moskitos“ vorwerfen, dass dem Stück das Zentrum fehlt - die Idee, auf die die Geschichte zusteuert. Doch das Leben verläuft oftmals chaotisch und nicht zielgerichtet - unvorhergesehene Ereignisse treten ein, kleine wie große Katastrophen und Glücksmomente geschehen zeitgleich und gewinnen oder verlieren an Bedeutung.
“Moskitos“ lässt Gedanken und Bilder entstehen, diese vor den Augen des Publikums kollidieren, um dem Zuschauer seine eigenen Verbindungen und Schlüsse ziehen zu lassen. Subjektivität kennzeichnete auch die Reaktionen des Publikums im Anschluss an die Premiere. Gespräche über die Deutung der Shiva-Figur und die Verantwortung der Wissenschaft im Allgemeinen sowie der Physik im Konkreten folgten. In der Erinnerung manch eines Zuschauers mögen die Nöte der Pubertätszeit aufgekommen sein oder die Angst vor dem Nachlassen der eigenen geistigen Kräfte.
Ein Premierengast sah in Alice das exakte Abbild, den Avatar, seiner einstigen Mieterin, was offenbar unbehagliche Gefühle in ihm weckte, ein anderer philosophierte über “The Boson“ und zog elementare Verknüpfungen zwischen Religion und drohendem Weltuntergang. Eindrücke sind eben subjektiv. Die Zuschauer von “Moskitos“ machen in den zweieinhalb Stunden Spielzeit nicht identische Erfahrungen - aber sie erleben diese gleichzeitig. Zumindest das verbindet - und ist eine zentrale Idee von Theater.

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